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Unbezifferte Verantwortlichkeitsklage gegen Revisionsstelle

Unbezifferte Verantwortlichkeitsklage gegen Revisionsstelle

Kommentierung
Aktiengesellschaft (AG)

Unbezifferte Verantwortlichkeitsklage gegen Revisionsstelle

Kommentierung von BGer 4A_581/2021, Publikation vorgesehen

1. Sachverhalt

Die Konkursmasse einer als Treuhand-, Revisions- und Beratungsunternehmen tätig gewesenen Aktiengesellschaft verlangte von der früheren Revisionsstelle mittels Schadenersatzklage «einen CHF 100'000.- übersteigenden Betrag». Eine exakte Bezifferung sei noch nicht möglich; der Schadensbetrag könne erst nach dem Beweisverfahren, d.h. nach Vorliegen des Expertengutachtens, bestimmt werden (vgl. E. 5). Das Regionalgericht Plessur hielt das Begehren für zulässig und wies den Antrag der Revisionsstelle auf Nichteintreten ab. Die Vorinstanz bestätigte diesen Zwischenentscheid (Urteil des Kantonsgerichts von Graubünden, II. Zivilkammer, vom 30. September 2021 [ZK2 19 71]).

2. Rechtliche Erwägungen

Gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist die Beschwerde an das Bundesgericht zulässig, wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Erforderlich ist, dass das Bundesgericht bei Gutheissung selbst einen Endentscheid fällen könnte und die Angelegenheit nicht an die Vorinstanz zurückweisen müsste (E. 1.2.1).

Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Es ist von einem aufwendigen Beweisverfahren auszugehen. Und durch die Gutheissung der Beschwerde sowie das Nichteintreten auf die Klage würde das konkret hängige Verfahren sofort beendet (E. 1.2.2). Falls erst der Endentscheid erfolgreich angefochten würde, erwiese sich das bis dahin durchgeführte Beweisverfahren als hinfällig. Mangels Rechtskraftwirkung des Nichteintretensentscheids hinsichtlich des eingeklagten Anspruchs wäre eine erneute Klage samt wiederholtem Beweisverfahren möglich (E. 1.2.3).

Die Klage enthält das Rechtsbegehren. Dieses Gesuch um Rechtsschutz bildet den Kern des Verfahrens und legt fest, worüber gestritten wird. Es muss so bestimmt formuliert sein, dass es bei Gutheissung der Klage zum Urteil erhoben werden kann (E. 3.2). Wird die Bezahlung eines Geldbetrags verlangt, ist der Betrag im Rechtsbegehren zu beziffern (Art. 84 Abs. 2 ZPO). Die Klägerin muss ihr Begehren so weit wie möglich beziffern. Wo dies nicht möglich ist, hat sie aufzuzeigen, dass die Bedingungen für eine unbezifferte Forderungsklage erfüllt sind (E. 2.2).

Ein korrekt formuliertes Rechtsbegehren ist nicht blosse Sachurteilsvoraussetzung, sondern Voraussetzung für das Entstehen und die Determinierung des Prozesses überhaupt. Daher ist das Rechtsbegehren in der Klageschrift zu formulieren und zu beziffern (E. 3.7). Die Bezifferung muss zwingend im verfahrenseinleitenden Schriftstück, also in der Klageschrift, enthalten sein. Denn die Bezifferung ist relevant für die sachliche Zuständigkeit, die Verfahrensart, die Bestimmung des Streitgegenstands, die Bemessung von Kostenvorschüssen, gegebenenfalls den Umfang der Verjährungsunterbrechung sowie die Berechnung der Verzugszinsen und erforderlich für die Wahrung des rechtlichen Gehörs der Gegenpartei (E. 3.2).

Ist es der Klägerin unmöglich oder unzumutbar, ihre Forderung bereits zu Beginn des Prozesses zu beziffern, kann sie eine unbezifferte Forderungsklage erheben. Sie muss jedoch einen Mindestwert angeben (Art. 85 Abs. 1 ZPO). Die Erhebung einer unbezifferten Forderungsklage ist insbesondere in Fällen denkbar, in denen erst das Beweisverfahren die Grundlage der Bezifferung der Forderung abgibt. Hier ist der Klägerin zu gestatten, die Präzisierung nach Abschluss des Beweisverfahrens vorzunehmen (E. 2.1).

Bei der unbezifferten Forderungsklage bleiben die Wirkungen einer bezifferten Klage erhalten: Die Verjährung wird im Umfang der nachträglich erfolgten Bezifferung unterbrochen, rückbezogen auf den Zeitpunkt der Einreichung der Klage. Wird die Beklagte durch die Klage in Verzug gesetzt und die Klage gutgeheissen, schuldet sie Verzugszinsen im Umfang des nachträglich Bezifferten ab dem Zeitpunkt der Zustellung der Klage (E. 3.3).

Vor diesem Hintergrund hat die Klägerin bereits in der Klageschrift – und nicht erst später in einer anderen Eingabe – konkret darzulegen, weshalb und inwiefern ihr aus objektiven Gründen die Bezifferung ihres Forderungsbegehrens nicht möglich oder wenigstens nicht zumutbar sein soll (E. 3.4, E. 3.8 und E. 5). Sonst könnte die Klägerin die Gründe für die Erhebung einer unbezifferten Forderungsklage nachschieben und hierdurch die Klageschrift gleichsam verbessern (E. 3.5). Es genügt nicht, dass die Klägerin lediglich auf fehlende Informationen hinweist. Vielmehr obliegt ihr der Nachweis, dass und inwieweit eine Bezifferung unmöglich oder unzumutbar ist (E. 2.2).

Vorliegend hat die Klägerin in ihrer Klageschrift den Mindestwert angegeben (E. 2.3.4), jedoch nicht ausgeführt, aus welchen Gründen ihr eine Bezifferung des geltend gemachten Schadens ohne das als Beweismittel angebotene Expertengutachten unmöglich oder unzumutbar sein soll (E. 5). Die Klägerin unterliess die Bezifferung unter pauschalem Verweis auf angeblich mangelnde, beweismässig noch zu erstellende Informationen. Dies genügt nicht. Erst im zweiten Schriftenwechsel hat die Klägerin eingehend dargelegt, weshalb es ihr unmöglich beziehungsweise unzumutbar sei, die Schadensposten zu beziffern (E. 2.3.3).

Legt die Klägerin die Voraussetzungen für die Erhebung einer unbezifferten Forderungsklage in der Klageschrift nicht dar, ist auf eine bewusst nicht bezifferte Klage nicht einzutreten, und zwar ohne vorgängige Ausübung der gerichtlichen Fragepflicht und ohne Ansetzung einer Nachfrist. Dies gilt jedenfalls für eine anwaltlich vertretene Partei. Eine Uminterpretation des Rechtbegehrens fällt nicht in Betracht. Nur wenn die Klägerin ein Eventualbegehren gestellt hat, wonach sie im Falle der Unzulässigkeit der unbezifferten Forderungsklage die Bezahlung des Mindestbetrags – unter Vorbehalt der Nachklage – verlangt, kann eine derartige «Teilklage» angenommen werden (E. 4).

Auf die nicht bezifferte Klage hätte nicht eingetreten werden dürfen. Die Beschwerde ist gutzuheissen, und das angefochtene Urteil des Kantonsgerichts wird aufgehoben. Die Sache ist zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen des kantonalen Verfahrens an das Kantonsgericht zurückzuweisen (E. 6).

3. Kommentar

Der Entscheid ist im Grundsatz nachvollziehbar und vertretbar. Allerdings ist zu betonen, dass keine zu hohen Anforderungen an die Begründungspflicht gestellt werden sollten. Unter Umständen ist es der Klägerin nicht möglich, in einer frühen Prozessphase eine detaillierte Erklärung abzugeben. Das Informationsdefizit, welches die verzögerte Bezifferung rechtfertigt, kann auch eine exakte Erklärung, weshalb gewisse Informationen nicht zugänglich sind, erschweren. Die Klägerschaft weiss vor dem Beweisverfahren womöglich gar nicht um die Existenz gewisser Informationen.

Das Urteil klärt zwar die Voraussetzungen der Zulässigkeit der unbezifferten Forderungsklage, wirft aber gleichzeitig gewisse Fragen auf. Angesichts des Vorbehalts, dass der im Entscheid zum Ausdruck gebrachte Standpunkt «jedenfalls für eine anwaltlich vertretene Partei» gelte (E. 4), ist ungewiss, ob das Bundesgericht bei einer nicht anwaltlich vertretenen Partei die vorgängige Ausübung der gerichtlichen Fragepflicht (Art. 56 ZPO) oder die Ansetzung einer Nachfrist (Art. 132 ZPO) erlauben beziehungsweise gebieten würde. Dies wäre grundsätzlich zu begrüssen, obgleich dadurch die nicht anwaltlich vertretene Klägerschaft bevorteilt wird gegenüber einer Partei, deren Rechtsvertreter die unterlassene Bezifferung der Klage aus mangelnder Sorgfalt nicht pflichtgemäss begründet.

An derselben Stelle der Urteilsbegründung erwähnt das Bundesgericht ausserdem, auf eine «bewusst nicht bezifferte Klage» sei nicht einzutreten (E. 4). Daraus lässt sich ableiten, dass das Gericht bei einer versehentlich versäumten Bezifferung nachfragen kann beziehungsweise soll. Insofern erweist sich eine ungenügende Begründung, weshalb die Bezifferung nicht möglich sei, als schädlich. Denn sie zeigt, dass die Klägerin bewusst von der Bezifferung abgesehen hat.

Das Bundesgericht gibt eine konkrete Empfehlung ab, wie sich die Klägerschaft gegen das Risiko eines gerichtlichen Nichteintritts auf eine nicht genügend begründete unbezifferte Forderungsklage schützen könnte: die Formulierung eines Eventualbegehrens, wonach die Klägerin im Falle der Unzulässigkeit der unbezifferten Forderungsklage «die Bezahlung von (genau) Fr. 100'000.-- verlangt, unter Vorbehalt der Nachklage» (E. 4). Ohne eine solche ausdrückliche Teilklage im Rechtsbegehren der Klageschrift hinsichtlich des Mindestwerts lehnt das Bundesgericht eine entsprechende Uminterpretation des Klagebegehrens ab.

Angesichts der erhöhten Begründungsanforderungen an die unbezifferte Forderungsklage dürfte es sich für den Rechtsvertreter in der Regel empfehlen, eventualiter eine derartige Teilklage zu erheben. Bei Verantwortlichkeits- oder Rückerstattungsklagen ist es unter Umständen angezeigt, zur frühzeitigen Verbesserung der Informationslage soweit möglich eine Sonderprüfung (Art. 697a ff. OR) beziehungsweise Sonderuntersuchung (Art. 697c ff. revOR) anzustrengen.

iusNet GR 29.09.2022